Kaffe und Tabak aus kultur- und Sozialgeschichtlicher Sicht

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10. Lernen aus der Geschichte und mehr –
Sozialarbeit und die Drogenproblematik in der heutigen Zeit

Im letzten Teil dieser Arbeit wird die Frage erörtert, was das hier dargelegte Wissen und die historischen Fakten der Sozialarbeit nützen. Dazu bedarf es allerdings einiger weitreichender Erläuterungen. Zunächst soll deswegen die grundlegende Aufgabenstellung und das Selbstverständnis von Sozialarbeit als Wissenschaft und praktische Profession vor dem gesamtgesellschaftlichen Hintergrund dargelegt werden. Dies passiert wieder in der Art der "Weitwinkelperspektive", die der gesamten Arbeit zu eigen ist.

Das Wissen aus der Vergangenheit nutzbar zu machen, erfordert natürlich einen Blick auf die derzeitige Drogensituation in Deutschland. Innerhalb derer agiert Sozialarbeit mit ihrer Verantwortung den Auftraggebern, den Adressaten, der Gesellschaft und sich selbst gegenüber.

Im letzten Abschnitt stellt sich die Frage nach Lösungsmöglichkeiten. Dabei geht es vor allem darum, inwiefern eine weiter gefaßte Sichtweise der Drogenproblematik zu einem realerem und effektiverem Handeln führen und welche Bedeutung dies für die Sozialarbeit haben kann.

 


10.1. Sozialarbeit auf der Suche nach Positionen

Der Titel dieses Abschnitts soll andeuten, daß Sozialarbeit als Profession und als Wissenschaft ständig neuen Anforderungen gegenübersteht. Dies betrifft sowohl den gesamten gesellschaftlichen Rahmen, der sich immer schneller verändert, als auch die verschiedenen Interessen, denen Sozialarbeit gerecht werden muß.

Als praktischer Beruf beinhaltet sie eine Krisen- und Interventionspädagogik, die auf Klienten mit psychischen, sozialen und lebenspraktischen Problemen reagiert. 230 * Dabei umfaßt Sozialarbeit eine Vielzahl von Einrichtungen, Maßnahmen und natürlich auch professionellen Mitarbeitern, die Menschen helfen sollen, sich in die Gesellschaft zu integrieren oder ein Leben zu führen, das ihrer Würde entspricht. Da an vorangehender Stelle schon die enorme kulturelle Bedeutung und Verbreitung von Drogen hervorgehoben wurde, kann man sich vorstellen, daß Sozialarbeiter in fast allen Arbeitsfeldern mit der Drogenproblematik wenigstens teilweise konfrontiert werden, und nicht nur in der Drogentherapie und -beratung. Deshalb ist das Wissen um und das Bewußtsein für Drogen für diesen Berufszweig und für das tatsächliche Handeln in den Arbeitsfeldern von großer Bedeutung.

Sozialarbeit agiert innerhalb von Kultur und wird durch verschiedene reale und ideelle Faktoren determiniert, die verschiedene Interessen vertreten. In ersteren sieht der Verfasser vor allem das Verhältnis von Auftraggeber und Adressaten der sozialen Arbeit. Der Staat steht dabei auf der einen Seite mit seinen Anforderungen, Interessen und gesetzlichen Regelungen als Auftrags- und Geldgeber. Wenn man es zugespitzt ausdrückt, hat Sozialarbeit aus dieser Sicht die Aufgabe, soziale Spannungen abzufedern, um ein Funktionieren der Gesellschaft zu ermöglichen. Insbesondere soll sie gesellschaftliche Notwendigkeiten und Werte durchsetzen, wie Anstand, Verläßlichkeit und Leistungswillen. Daneben hat sie die Aufgabe, Rechte, Pflichten und Grenzen der Bürger deutlich zu machen. 231 * Dabei können die Interessen der Regierenden und der staatlichen Institutionen jedoch nur ein Teilaspekt der Arbeitsziele sein, da diese Profession für das Wohl und das menschenwürdige Leben ihrer Klienten da ist und dabei natürlich auch deren Interessen (Anwalt des Klienten) vertritt. Dazu zählt auch die Verpflichtung zur Schaffung der bestmöglichen gesellschaftlichen Zustände entweder um Problemlagen zu beseitigen oder zu verringern, oder in unvermeidlichen Krisensituationen eine effektive und wirklich wirksame Hilfe zu leisten. Die Frage, ob die jeweiligen Interventionen unter den gegebenen Rahmenbedingungen sinnvoll und wirkungsvoll sind, muß perspektivisch ebenso rückwirkend wie auch in die Zukunft blickend immer auch an die staatlichen Institutionen gestellt werden, da Sozialarbeit – obwohl überwiegend klientenbezogen – das Umfeld der Gesellschaft nicht außer Acht lassen kann.

Abgesehen von der Anforderung des konkreten und effektiven Handelns zur Problembeseitigung und der daraus folgenden praktischen Überlegung der Sinnhaftigkeit dieses Handelns unter den gegebenen Umständen hat Sozialarbeit eine moralische Verantwortung. Man kann sie eben auch leicht benutzen, um gesellschaftliche Probleme wie Armut, Wandel der Arbeits- und Lebensbedingungen und auch das Drogenproblem Individuen anzulasten. Hier steht die moralische Anforderung an die Sozialarbeit, sich gegen solche Tendenzen stark zu machen und dabei alternative Lebens- und Gesellschaftsmuster zu entwickeln. 232 * Auch dies erfordert den Blick auf gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge. Damit werden Forderungen an die Sozialarbeit gestellt, die Forschung und Wissenschaft betreffen.

Dabei sei hier die enorme Rolle der Wissenschaft für die Bereitstellung der notwendigen Methoden und des Wissens für die praktische Profession betont. Die Sozialarbeit benötigt wissenschaftliche Erkenntnisse vor dem Hintergrund realer Problemlagen und gesellschaftlicher Erfordernisse, um Leitlinien (Konzepte) und Handlungsmöglichkeiten (Exposés) zu entwerfen und umzusetzen, die auf eine Verbesserung der Situation sowohl für die betroffene Klientel als auch für das Gemeinwesen hinzielen.

Sozialarbeit als eigenständige Wissenschaft wird von Kritikern nicht selten in Frage gestellt. Der Hauptgrund dafür ist ihre interdisziplinäre Arbeitsweise, aufgrund derer man ihr unterstellt, sie nutze lediglich das Wissen anderer Fachbereiche wie der Psychologie, der Soziologie oder der Pädagogik. 233 * Die Verbindung und Nutzung solcher Erkenntnisse ist nach Meinung des Verfassers aber gerade das, was Sozialarbeit auszeichnet und auch als Wissenschaft rechtfertigt.

Hierbei ist es nötig, übergreifend und gesamtgesellschaftlich und -kulturell zu denken. Das übergreifende Denken sollte auch gefördert werden im Sinne einer Vereinfachung und Rückbesinnung auf zu untersuchende Kernpunkte. Sozialarbeit als Wissenschaft zerfleischt sich oft förmlich an ausufernden, abstrakten Untersuchungen von Einzelphänomenen und ihrer eigenen Definition und läuft Gefahr, ein Opfer der bei Beck genannten Verwissenschaftlichung zu werden. 234 * Den vorhergenannten Gedanken übergreifenden Denkens verfolgt auch diese Arbeit, die eben die Geschichte als Hauptthema hat, um auf diese Erfahrungen aufbauend im Zusammenhang mit heutigem Wissen verschiedener Bereiche allgemeine Handlungs-, Bewußtseins- und Denkanstöße zu geben.

So hätte Sozialpädagogik "den sozialen Wandel zu beobachten und ein wissenschaftliches Verstehen dieses Wandels in Vergangenheit und Gegenwart zu fördern." 235 * "Schließlich geht es auch um den Versuch, ein Stück voranzukommen in der Frage, wie pädagogisch relevante Problemlagen, die einer pädagogischen Intervention bedürfen, angemessen in ihrer historisch-konkreten Qualität erfaßt werden können." 236 * Dazu möchte ich noch die kulturell-gesellschaftliche Qualität hinzuzählen.

Ich erwähnte bereits, daß Sozialarbeit als Wissenschaft umstritten ist, doch dies trifft auch auf den praktischen Beruf zu, da er verschiedenen Interessen gerecht werden muß. Diese Ambivalenzen betreffen nicht nur die Bewertung der Profession von außen, sondern auch ihr Selbstverständnis.

Sozialarbeit muß sich als eine eigenständige Kraft begreifen, die zwar Aufgaben des Staates erfüllt, aber aufgrund ihrer Verantwortung gegenüber sich selbst, den wissenschaftlichen Fakten und vor allem gegenüber den Klienten vom Staat Verbesserungen fordern sollte, die dem Staat, insofern er ehrlich das Beste für seine Bewohner will, ja auch zugute kommen. Dabei ist der Blick auch auf das gesamtgesellschaftliche Wohl zu richten. Es geht darum, sich im Sinne einer freien Entfaltung der Persönlichkeiten und der Möglichkeit, so effektiv und wirksam wie möglich Hilfe leisten zu können, Erkenntnisse und Forderungen öffentlich auf breiter Basis zu diskutieren. Daran hapert es jedoch derzeit in der Sozialarbeit noch gewaltig. Das zeigt die schwache Organisation auf Berufsverbandsebene. Ethische Verantwortung gehört genauso zur Sozialarbeit wie Fachkompetenz und soziales Einfühlungsvermögen.

 


10.2. Die derzeitige Drogensituation

Dieses Kapitel konzentriert sich geographisch auf Deutschland, in seinen Grundlinien ist der Inhalt jedoch auf fast alle europäischen Länder – eigentlich auch auf die meisten Länder der Erde – übertragbar, da sich die Grundsichtweise von Drogen und Drogenproblemen und auch der Umgang damit überall ähneln.

Da ich mich bei dieser Arbeit der Mehrdimensionalität von Drogen und einer komplexen Sichtweise auf sie verschrieben habe, werden hier keine spezifischen Therapiemöglichkeiten angesprochen. Der Blick soll sich hier vor allem auf die gesamtgesellschaftliche Drogenpolitik und deren Auswirkungen und Möglichkeiten für Sozialarbeiter richten.

Ein wichtiges Faktum der heutigen Zeit im Vergleich zum in dieser Arbeit schon ausführlich beschriebenen Zeitbschnitt ist die Tatsache, daß Begrifflichkeiten und Zusammenhänge wissenschaftlicher Natur bekannt sind, um Drogen und deren Wirkungen in pharmakologischer, medizinischer, psychologischer aber auch kulturell/gesellschaftlich-sozialer Hinsicht zu beschreiben, die im 17. und 18. Jahrhundert noch nicht bekannt waren. Gleichzeitig gibt es einen großen Kreis von Professionen, die Strategien gegen die von Drogen verursachten Schäden entwickeln und umsetzen, wie beispielsweise Mediziner, Psychologen und natürlich auch Sozialarbeiter. Der Staat engagiert sich ebenfalls stark auf diesem Gebiet.

In unserer Gesellschaft werden eine Vielzahl von Drogen in großen Mengen konsumiert. Auf dem Gebiet der sogenannten illegalen Drogen zeigt sich dies in steigenden Konsumentenzahlen, steigenden Sicherstellungszahlen der Polizei, aber auch in den erhöhten Zahlen Abhängiger. Hier laufen offensichtlich Integrationsprozesse ab. Die Akzeptanz und die Nachfrage illegalisierter Drogen in Teilen der Gesellschaft verstärkt sich. An der Spitze stehen dabei Cannabisprodukte mit drei bis vier Millionen (geschätzte Zahl aufgrund von Umfragen des Instituts für Therapieforschung in München) Konsumenten (die aktuell Cannabisprodukte konsumieren) in der Bundesrepublik Deutschland. 237 *

Gleichzeitig erregt der Ge- und Mißbrauch sogenannter illegaler Drogen und die dadurch entstehenden Folgen große öffentliche und offizielle Aufmerksamkeit. Man spricht von Rauschgiftwellen, Drogenkrisen und "Dammbruchszenarien" und befürchtet, daß die Gesellschaft mit den per Gesetz illegalisierten Drogen überflutet werde. Der Staat verfolgt mit seiner Gesetzgebung das Ziel einer totalen Abstinenz von diesen Drogen. Dies ist an und für sich schon ziemlich zweischneidig, da ja äußerst gefährliche Drogen wie Tabak und Alkohol erlaubt und geselllschaftlich akzeptiert sind.

Im Hinblick auf die historischen Erfahrungen zeigt sich, daß Drogenverfolgung oft ein Instrument der Herrschaftsinteressen war und nicht unbedingt etwas mit wirklichem Schutz der Bevölkerung zu tun hatte und hat. Besonders in Zeiten der Integration kulturfremder Drogen wurden und werden Auseinandersetzungen ausgetragen, die als Hintergrundmotivationen auch Machterhalt, Festhalten an Wertvorstellungen und Schutz von Einkommensquellen gesellschaftlicher Eliten beinhalten. Denn aufgrund der engen Wechselwirkungen zwischen Drogen und der menschlichen Kultur setzen sie neue Denk- und Handlungsmuster frei und werden gleichzeitig oft von sozial mobilen Gruppen in all ihren Rollen und Wirkungsebenen benutzt, um Einfluß auf die Gesellschaft zu nehmen. 238 *

Auch auf dem Gebiet der legalen Drogen muß man konstatieren, daß sie in großem Umfang gebraucht werden und im Falle von Alkohol, Tabak und Arzneimitteln hohe Schäden verursachen. Jährlich etwa 40.000 bis 50.000 Todesfälle im Zusammenhang mit Alkohol (ohne Verkehrstote) und etwa 100.000 tabaksbedingte Todesfälle in Deutschland sprechen eine eindeutige Sprache. Genaue Zahlen bezüglich der Opfer durch Medikamentenmißbrauch sind statistisch nicht ausgewiesen. 239 *

Diese Drogen sind weithin akzeptiert und werden benutzt. Allerdings fehlt oft selbst bei offiziellen Stellen das Bewußtsein dafür, daß es Drogen sind. Man bezeichnet Alkohol, Tabak und Co. 240 * als Genußmittel und der Staat nimmt durch deren Besteuerung jährlich Milliarden ein.

Zusammenfassend kann festgestellt werden, daß es heutzutage eine Vielzahl von Drogen innerhalb der Gesellschaft gibt, die von einer Vielzahl von Menschen regelmäßig gebraucht werden. Egal ob diese verboten oder frei beziehungsweise unter besonderen Bestimmungen erhältlich sind, führen sie jeweils nach ihren pharmakologischen Eigenschaften auch zu negativen Auswirkungen wie Gesundheitsschäden, Abhängigkeit und sozialen und lebenspraktischen Problemen. Da die Problemelage sich in den letzten Dakaden nicht gebessert hat, muß die Frage gestellt werden, ob die bisherigen Maßnahmen tauglich sind oder den Problemen überhaupt gerecht werden. Dies wiederum führt zu der Frage, welche Sichtweise auf Drogen eigentlich angemessen ist. Es muß somit immer wieder gerade von der Helferseite überlegt und gefragt werden, ob die jetzigen Maßnahmen es ermöglichen, richtige Hilfe in Problemfällen zu leisten, ob sie für gesamtgesellschaftliche Lösungen tauglich sind und vor allem auch, welche (politische) Interessen hinter bestimmten Maßnahmen stecken. Dies gilt insbesondere, wenn die Maßnahmen aus ethischer Sicht zweifelhaft sind und kontraproduktive Effekte zur Folge haben.

 


10.3. Derzeitige Hauptstrategien gegen Drogenprobleme

Scheerer und Heß bezeichnen die Maßnahmen, den Umgang mit Drogen möglichst ungefährlich für die Gesellschaft und das Einzelindividuum zu regeln, als "aktive" und "reaktive Drogenkontrolle". 241 * Ich möchte eher von Maßnahmen zur Abwendung und Minimierung des Drogenkonsums sprechen und eine andere Aufteilung bei der Erläuterung der jetzigen Maßnahmen benutzen, da diese andere Aufteilung der Problematik eher gerecht wird. Dabei sei darauf hingewiesen, daß sich Maßnahmen generell gegenseitig beeinflussen, da sie Elemente des kulturellen Kontextes sind.

Heute bilden gesetzliche Regelungen im Bezug auf Drogen die Grundlage des wichtigsten Komplexes an Maßnahmen (Repression) zur Bekämpfung des sogenannten Drogemproblems. Auf illegale Drogen bezogen, bildet deren Verbot die offiziell verfolgte Hauptstrategie um ihren Konsum und Besitz einzudämmen beziehungsweise zu unterbinden um damit die Volksgesundheit zu schützen. Letzteres ist die offizielle Legitimation der Totalprohibition. 242 * Diesen Hauptansatz deutscher Drogenpolitik kann man auch als Kriminalisierung von Konsumenten und Händlern bezeichnen. 243 * Das Mittel des Verbots ist, wie wir in dieser Arbeit schon dargestellt, recht alt, hat sich jedoch schon öfters als unwirksam erwiesen.

Im Bezug auf legale Drogen kommt den gesetzlichen Regelungen in Form von Einschränkungen, wie zum Beispiel für Jugendliche, ebenfalls eine große Bedeutung zu. Auch Werbeeinschränkungen, um die Nachfrage und den Kontakt zu verringern, und Sondersteuern, um für die ärmeren Gesellschaftsschichten die Verfügbarkeit zu verringern, sollen einen dirigistischen Effekt im Sinne einer Konsumminderung katalysieren. Weitere gesetzliche Maßnahmen beinhalten das Arzneimittel- und Apothekengesetz.

Der nächste – kulturell gesehen eigentlich wichtigste – Punkt ist die öffentliche wie auch die private Meinungsbildung. Diese umfaßt soziale Begrüßung oder Sanktionierung, Aufklärung, Aneignung von fundiertem Wissen und ehrliche Debatten. Einen großen Teil der Elemente dieses Punktes kann man auch mit Prävention beschreiben. Die besondere Wichtigkeit im Bezug auf die öffentliche und private Meinungsbildung leite ich daher ab, daß der Kommunikation in Kulturen große Bedeutung zukommt und wir derzeit noch dazu Integrationsprozesse von Drogen in unsere Gesellschaft vorfinden, die mit Auseinandersetzungen und intensiven Debatten einhergehen.

Der dritte und letzte Komplex beinhaltet die Arbeit der professionellen Helfer. Dazu gehört auch das Sozialsystem des Staates, welches diese Maßnahmen finanziell tragen muß. Die offizielle Sicht in Deutschland ist zum einen sehr stark vom Pol der Kriminalisierung geprägt, zum anderen (gerade im Suchthilfebereich) sehr stark vom Pol der Pathologisierung, wobei dort der Drogengenuß und die Abhängigkeit als krankhaft bezeichnet werden. Beide Pole beeinflussen sehr stark die Meinungsbildung und behindern damit auch die Aufklärung zum Thema. Sie behindern sich aber auch gegenseitig. Der gesamtkulturellen Sichtweise auf Drogen werden weder die offizielle Meinung und Strategien des Staates noch die Ansichten und Maßnahmen aus dem Suchthilfebereich 244 * gerecht.

 


10.4. Legale Drogen

Nachdem Kaffee und Tabak den bereits beschriebenen Integrationsprozeß durchlaufen haben, gelten sie in unserer heutigen Gesellschaft als voll integriert. Das bedeutet, daß sie legal erhältlich sind und in breiten Kreisen der Gesellschaft konsumiert werden. Dasselbe gilt für Alkohol. Besonders im Bezug auf Tabak und Alkohol ist die Gesundheitsvorsorge jedoch lange vernachlässigt worden und erst seit der Jahrtausendwende rückte der Diskurs über die Gefährlichkeit dieser Drogen in das Zentrum der öffentlichen Wahrnehmung, nachdem die gesundheitsschädlichen und suchterzeugenden Effekte durch wissenschaftliche Untersuchungen belegt wurden und die immensen Schäden und den damit verbundenen Kosten, die durch den (übermäßigen) Konsum dieser Drogen hervorgerufen werden, statistisch aufgearbeitet wurden. 245 *

Zur Eindämmung der Schäden und Kosten kommen auf der einen Seite derzeit Maßnahmen gesetzlicher Natur zum Zuge, die erstens die Verfügbarkeit der Drogen für bestimmte Konsumentenkreise (Jugendliche) durch Jugendschutzgesetze herabsetzen sollen und zweitens die Motivation der Konsumenten zum Kauf der Drogen durch hohe Preise aufgrund gesonderter Steuern vermindern sollen. Darüber hinaus sollen angestrebte Werbeverbot den Anreiz zum Kauf dieser Drogen mindern, was derzeit jedoch nur für Tabakprodukte gilt.

Diese Maßnahmen mögen durchaus sinnvoll erscheinen, in ihrer tatsächlichen Wirksamkeit sind sie jedoch beschränkt. Wie im Kapitel der Geschichte des Tabaks deutlich gezeigt werden konnte, besaß der wirtschaftliche Faktor schon während der Integration dieser Droge eine enorme Bedeutung. Auch auf dem heutigen kapitalistischen Markt hat der Tabak diese Rolle keinesfalls verloren. Aus diesem Grund ist es auch für Jugendliche unter 16 Jahren nicht schwer Tabak zu bekommen, sei es in Supermärkten ohne Kontrollen an den Kassen oder auch an den zahlreichen Automaten. Um die Jahrtausendwende gab es in Deutschland 830.000 Zigarettenautomaten. Das heißt, pro 100 Einwohner oder pro 35 Raucher gab es einen Zigarettenautomaten. Bis zum Jahr 2006 sank die Zahl der Automaten auf etwa 600.000, da wegen den Steuererhöhungen einerseits mehr Schnittabak geraucht wurde und andererseits mehr Schmuggelware auf dem Schwarzmarkt verfügbar war und dadurch der Umsatz von (versteuerten) Zigaretten deutlich zurück ging. 246 *

Diese Industrie stemmte sich stets vehement gegen Werbeverbote und tat dies auch gegen die auf den Verpackungen von Tabakwaren aufgedruckten Warnhinweise. Vor allem die Angst vor wirtschaftlichen Verlusten durch Schadensersatzklagen, wie sie vor allem in den USA üblich und recht oft auch erfolgreich sind, bewegte die Tabakkonzerne schließlich doch zur Zustimmung zum Aufdrucken von Warnhinweisen auf Zigarettenschachteln.

Die Erhöhung des Tabakpreises durch Besteuerung hat nachgewiesenermaßen einen Effekt, denn nach jedem Anstieg folgt ein Sinken des Pro-Kopf-Konsums an versteuerten Zigaretten. 247 * Dabei steigt jedoch auch jedesmal der Anteil der konsumierten Schmuggelware, so beispielsweise in Deutschland vom 2. Quartal 2005 (Anteil 14,1%) um 4,3 Prozentpunkte zum 2. Quartal 2006 (Anteil 18,4%). 248 * Doch auch hier machen sich wirtschaftliche Interessen bemerkbar. Zum einen ist der Staat in einem Zwiespalt, beschneidet er doch seine Einnahmen, und zum anderen protestiert auch hier die Industrie und argumentiert beispielsweise mit wegfallenden Arbeitsplätzen. Somit haben alle diese Maßnahmen keinen durchschlagenden Erfolg im Sinne einer großen Einschränkung des Konsums und Minderung der auftretenden Gesundheitsschäden. Dies liegt vor allem daran, daß der Konsumbedarf und -wille besteht. In der Betrachtung der Geschichte wurde deutlich, daß wirtschaftliche und gesetzliche Maßnahmen in solchen Fällen kaum erfolgreich waren.

Aufgrund dieser Erkenntnisse erscheint der Weg der öffentlichen Aufklärung über mögliche Gesundheitsschäden und die potentielle Suchtgefahr der wohl eher erfolgversprechende. Er zielt primär auf ein Einsehen der Konsumenten oder auch der potentiellen Konsumenten in die Gefährlichkeit des Tuns und einer danach folgenden Verhaltensänderung ab. In vielen Ländern der Welt, auch in Europa, kam es zu einem Rückgang des Nikotinkonsums innerhalb der letzten zwei Jahrzenhnten durch öffentliche Negativbewertung und Berichterstattung über die Gesundheitsrisiken – und das ohne Verbote und obwohl die Droge frei zugänglich war. 249 * Dabei muß festgestellt werden, daß die Legalität diese Art der Gesundheitsvorsorge überhaupt erst möglich machte. Sie war so bei weitem nicht so stark von ideologischen, kulturellen und politischen Auseinandersetzungen geprägt wie das im Fall der illegalisierten Substanzen der Fall war.

Die Legalität, der hohe Grad der gesellschaftlichen Integration und vor allem der ideologische Kampf gegen die illegalen Substanzen, die man allgemein als Drogen bezeichnet, haben die Zuordnung von Tabak zu den psychotropen Substanzen im Bewußtsein der breiten Bevölkerung erschwert. Auf dem Gebiet der legalisierten Drogen kommt deshalb der Frage des Bewußtwerdens, daß sie überhaupt psychoaktive Substanzen darstellen, eine große Rolle zu. In den Köpfen der breiten Bevölkerung ist Tabak nach wie vor mit dem Begriff Genußmittel assoziiert, 250 * wobei hier anzumerken ist, daß die meisten Drogen ohne Zweifel ja Genußmittel sind.

Die Trennung zwischen lagalen und illegalisierten Drogen ist aus pharmakologischer Sicht absolut willkürlich erfolgt und die selektive Sichtweise auf legale respektive illegalisierte Drogen spielt im Bewußtsein vieler Leute die real existierenden Gefahren, die insbesondere von Tabak, aber auch von Alkohol im Zusammenhang mit Abhänigkeit und Gesundheitsschäden ausgehen, herunter. Dies wird bei der Analyse der aufgezeigten Fakten betreff Gefährdungseinstufungen im französischen "Roques-Report" deutlich, wo Alkohol in der höchsten Kategorie mit Heroin erscheint und Tabak mit Ecstacy in der mittleren. 251 * Drogengenuß und -mißbrauch sind im legalen Bereich stark verbreitet und beschränken sich nicht nur auf den Bereich der illegalisierten Substanzen.

Ein Deutlichmachen dieser Stoffe als Drogen würde eine genauere Argumentation und einen ihnen und ihrem Gefährdungspotential gemäßen Umgang erleichtern. Medikamente gehören freilich auch dazu! Aufklärungsprogramme in Form von Werbespotts, Infosendungen und -material müssen aber auch in ihrer Wirksamkeit an der realen Wirklichkeit und der Geschichte gemessen werden. Eine drogenfreie Gesellschaft ist aufgrund des Willens der Menschen zum Genuß und des Bedürfnisses, sich mittels Drogen in andere Bewußtseinsebenen zu begeben, eine realitätsfremde Utopie.

 


10.5. Illegale Drogen

An dieser Stelle sei mir noch einmal ein kurzer Rückblick auf die historischen Fakten gestattet, um die derzeitige Situation zu bewerten. Bei der Betrachtung der Rechtskultur muß festgestellt werden, daß die Verbotspraxis von Drogen immer wieder praktiziert wurde und nichts nützte, sondern eher kontraproduktiv wirkte. Diese Erfahrung kann nicht nur aus der Kaffee- und Tabakgeschichte gezogen werden, sondern beispielsweise auch aus der gescheiterten Alkoholprohibition in den USA in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts.

Oft hatten die Verbote in der Vergangenheit auch nichts mit dem tatsächlichen Gefährdungspotential zu tun. Ein ähnlicher Verdacht drängt sich heute auf, bedenkt man, daß Cannabis im schon erwähnten "Roques-Report" am Ende der Gefährdungsskala steht. 252 *

Die wirtschaftliche Bedeutung von Drogen war in Vergangenheit genauso groß wie in der Gegenwart. Das betrifft die legalen wie auch die illegalisierten Drogen. Die illegalisierten Drogen spielen eine genauso große Rolle wie die legalen, sind sie doch ein Handelsgut mit dem riesige Umsätze gemacht werden. Im gesamtwirtschaftlichen Bereich schlagen sich sowohl die Kosten für die Durchsetzung von Gesetzen (Prohibition) als auch für die Behandlung von Schäden, die durch die Prohibition wie auch durch den (übermäßigen) Drogenkonsum entstehen, nieder.

Auch in der heutigen Zeit werden heftige Debatten mit starken Auseinandersetzungen um illegalisierte Drogen geführt, die beweisen, daß aktuell Integrationsprozesse ablaufen. Diese Debatten sind auch heute, wie früher, stark ideologisch geprägt. Dabei spielen jedoch derzei zunehmend die jetzt nutzbaren wissenschaftlichen Erkenntnisse eine Rolle. Diese werden allerdings von den offiziellen Stellen teilweise nicht hinreichend und genügend beachtet, teilweise unter Verschluß gehalten und manchmal sogar einfach völlig ignoriert. 253 * Unter anderem wird deshalb die Totalprohibition immer stärker kritisiert, nicht nur von Konsumentenseite, sondern auch von Sozialarbeitern, Drogenberatern und auch von verantwortungsbewußten Politiker.


 
Abb. 29: Titelseite der Zeitschrift Hanf

Im Alltag, besonders in dem der Jugend, spielen die illegalisierten Drogen, vor allem Cannabis, derzeit eine große Rolle. Ein Unrechtsbewußtsein im Umgang mit Cannabis ist kaum noch zu verzeichnen.

Aber auch in künstlerischen Formen finden Drogen mittlerweile vielfältigen, auch öffentlichen Niederschlag, sei es im Bereich der Musik, 254 * des Films 255 * oder der Mode (beispielsweise das Hanfblatt als Symbol). Auch gibt es schon diverse Medien für Drogengebraucher, wie die Zeitschrift "Hanf" oder das "Hanfjournal" die über die eigentliche Aufklärung hinaus auch als öffentliches Sprachrohr von gesellschaftlicher Relevanz sind.

Drogen sind kulturelle Katalysatoren mit positiven Effekten, auch für die Sozialisation Jugendlicher, die Genußfähigkeit 256 * und die Gesamtgesellschaft. So ist die Bedeutung von LSD für die Kunst und Kultur unumstritten. 257 * Eine umfassende Darstellung der kulturellen Auswirkungen von jetzt illegalisierten Drogen besonders auf literarischem Gebiet im 19. und 20. Jahrhundert gibt Alexander Kupfer. 258 *

Wenn ich schon ausführte, da Sozialarbeit eine spezielle Verantwortung gegenüber Individuum und Gesellschaft hat, lohnt sich ein Blick auf das Handeln unter dem Verbot und dessen Sinn. Zunächst muß man feststellen daß das Verbot im Bezug auf positive Effekte versagt hat, wie an der jetzigen Situation ersichtlich ist. An der Entwicklung der letzten Jahrzehnte zeigt sich, bedenkt man dazu noch den historischen Hintergrund, daß Drogenkonsum, wenn er gewollt ist, eben nicht verbietbar ist, egal wie schädlich die Auswirkungen und wie hoch die Strafen sind.

Der deutsche Staat setzt immer noch auf repressive Verfolgung. Trotzdem erreichen 90% bis 95% aller illegal nach Deutschland gebrachten psychotropen Substanzen die Endkonsumenten, wenn nicht sogar noch mehr. 259 * Die Verfolgungsorgane scheinen wie Don Quichotte gegen Windmühlen zu kämpfen, um einmal bildlich zu sprechen. Vor diesem Hintergrund gibt es gerade vor allem innerhalb des Staatsapparates, der Polizei und der Justiz Stimmen, den Verfolgungsdruck noch mehr zu steigern. Doch wenn ich an das historische Thema des Tabaks erinnern darf: auch Todesstrafen konnten ihn nicht aufhalten. Dieses historische Argument spielt aber nicht die Hauptfunktion der Gründe für eine neue Drogenpolitik im Gegensatz zur jetzt praktizierten.

Man sollte bedenken, was die Illegalität noch verursacht außer Abschreckung und Verfolgungsdruck, deren Wirksamkeit ohnehin offensichtlich arg eingeschränkt ist. Sie verursacht zunächst einmal völlig allgemein Kriminalisierung sämtlicher Händler und Konsumenten. Aufgrund der weiten Verbreitung ist dies ein großer Personenkreis, dessen Zahl ansteigt. Dies ist so, weil der Wille besteht Drogen zu konsumieren. Daraus folgernd benötigt auch der Verfolgungsapparat hohen materiellen und personellen Aufwand, was eine große gesamtgesellschaftliche Belastung darstellt. Das Geld fehlt eben an anderer Stelle. Bei dieser Aufstellung der wirtschaftlichen Mittel muß man sich vor Augen halten, daß ein Erfolg der Maßnahmen nicht ersichtlich ist. In der Vergangenheit hatte man ebenfalls diese Erfahrung gemacht, als man feststellte: "daß Zwangsmittel nicht hinreichend seyen, daß schwere Auflagen nicht helfen" 260 * und "daß die Einschränkungen und Verbote des Kaffeverbrauchs die Länder, anstatt sie zu beglücken, immer tiefer ins Elend stürzen." 261 *

Zu den negativen Auswirkungen des Strafrechts bezüglich der Drogenhilfe wie auch bezüglich der Gesamtgesellschaft stellte die "Drogen- und Suchtkommission beim Bundesministerium für Gesundheit" in ihrer "Stellungnahme zur Verbessung der Suchtprävention" vom Juni 2002 fest:

"Die sozialwissenschaftliche Forschung hat sich in den letzten Jahrzehnten intensiv mit der Lenkungswirkung von und der Verhaltenssteuerung durch Recht beschäftigt. Die Ergebnisse dabei sind insgesamt eher entmutigend. Viele der dem Recht zugeschriebenen Folgen oder Ergebnisse lassen sich nicht oder durch andere als rechtliche Mittel besser (z.B. mit weniger Nebenwirkungen) erreichen. Dies gilt insbesondere für die verhaltenssteuernde Wirkung des Strafrechts, wo spezial und generalpräventive Effekte nur bedingt nachzuweisen sind. Zwar hat das Strafrecht insgesamt eine positive generalpräventive Funktion in dem Sinne, daß es die Normtreue der Normtreuen (also der "Anständigen") verstärkt; dabei kommt es aber weniger auf die konkrete Ausgestaltung einer (Strafrechts-)Norm oder auf die Art und Höhe der Sanktion als auf die Tatsache an, daß ein Verhalten überhaupt als bestrafungswürdig vom Gesetzgeber definiert wird. Andere Faktoren (wie z.B. bei Jugendlichen die Gruppe der Gleichaltrigen) spielen bei der individuellen Entscheidung, ob man sich an bestimmte Vorschriften hält oder nicht, eine größere Rolle als das (Straf-)Recht.

Für die Gesetzgebung im Zusammenhang mit illegalen und legalen Drogen bedeutet dies, daß keine überzogenen Erwartungen an (neue) Gesetze zu stellen sind. Vielmehr ist besonderes Augenmerk auf mögliche schädliche Nebenwirkungen solcher Gesetze (z.B. Stigmatisierung bestimmter Personengruppen, negative Effekte durch Inhaftierungen etc.) zu richten. Zudem sollten Gesetze regelmäßig evaluiert und daraufhin überprüft werden, ob die in sie gesetzten Erwartungen auch tatsächlich erfüllt worden sind. Sollte die (unabhängige) Evaluation zu dem Ergebnis kommen, daß dies nicht der Fall ist, dann sind die Gesetze abzuschaffen, im Ausnahmefall auch zu ändern.

Da die empirische Forschung die prinzipielle Überlegenheit präventiver gegenüber repressiver Maßnahmen nachgewiesen hat ist darüber hinaus auch sicherzustellen, daß aus bestimmten Gründen notwendige repressive Vorschriften keine negativen Nebenwirkungen dadurch haben, daß sie präventiven Vorschriften oder Präventionsmaßnahmen entgegenstehen, behindern oder unmöglich machen. So zeigt sich in der Praxis, daß viele Formen der akzeptierenden Drogenhilfe gegen das derzeit geltende Betäubungsmittelgesetz verstoßen.

So hat z.B. der Gesetzgeber z.B. die Ausgabe von Einmalspritzen an Drogenabhängige und die Einrichtung und das Betreiben von nach §10 a BtMG erlaubten Konsumräumen aus der Strafbarkeitszone herausgenommen. Es bleiben aber trotz des Dritten Betäubungsmittel-Änderungsgesetzes zahlreiche Formen akzeptierender Drogenhilfe, die eine Verfestigung des Drogenmißbrauchs verhindern, Lebenshilfe und Überlebenshilfe gewährleisten wollen, strafbar. Die Plakataktion der AIDS-Hilfe, die Opiatabhängige zu Safer-Use-Techniken gewinnen wollte, wurde wegen Verstoßes gegen § 29 Abs. 1 Nr. 12 BtMG (= öffentliche Aufforderung zum Verbrauch von Betäubungsmitteln, die nicht zulässiger Weise verschrieben worden sind) verfolgt. Sozialarbeiter oder Ärzte, die für einen AIDS-Kranken Marihuana zu Therapiezwecken beschaffen, machen sich wegen unerlaubten Betäubungsmittelerwerbes strafbar. Wenn eine Mutter, ein Leiter einer betreuten Wohngemeinschaft oder eines Übernachtungsheimes für Drogenabhängige, ein Polizeibeamter oder ein Sozialarbeiter eine Tochter/Sohn, einen Mieter/in, einen Besucher oder Straßenpassanten in einen hygienischen Raum zum Konsum weisen, so ist dies nach den §§ 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 10 und 11 BtMG (neue Fassung) immer noch strafbar. Wenn außerhalb der staatlichen Untersuchungsstellen, die gemäß §4 BtMG von der Erlaubnispflicht befreit sind, Drogenberatungslehrer, Chemiker oder Drogenhelfer (wie die Organisation Eve & Rave in Berlin) am Rande von großen Musikveranstaltungen Betäubungsmittel-Proben auf ihre Zusammensetzung untersuchen, um Drogenkonsumenten vor gefährlichen Designerdrogen zu warnen, so stellt dies nach herrschender Meinung ein strafbares Verschaffen von Gelegenheit zum unbefugten Verbrauch nach § 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 BtMG dar. Wenn Drogenhelfer auf der Drogenszene verelendenden Opiatabhängigen mit vereiterten und zerstochenen Venen beim Injektionsvorgang durch Hilfe beim Abbinden, bei der Venensuche oder beim Setzen der Spritze helfen, so verschaffen sie mit dieser Hilfeleistung eine Gelegenheit zum unbefugten Verbrauch und machen sich nach § 29 Abs. 1 Nr. 10 BtMG strafbar.

Das BtMG und teilweise auch das Strafgesetzbuch bedrohen bisweilen Präventionsmaßnahmen mit Strafe, anstelle Präventionsmaßnahmen zu fördern und eine Rechtsgrundlage zu bieten.

Der Gesetzgeber hat in den vergangenen Jahren aus politischen Erwägungen mit den §§ 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 10, 11 und 12 BtMG besondere Tatbestandsformen der Beihilfe zum Konsum geschaffen und mit Strafe bedroht, obwohl von Seiten der Strafverfolgung hier kein Bedürfnis bestand. So zeigen denn auch die Statistiken der Strafverfolgungsbehörden, daß diese Vorschriften nicht zu Verurteilungen führen, aber von den politischen Parteien bei der Bewertung von Drogenhilfe und Therapiemaßnahmen häufig zitiert werden. Die Lösung der Probleme wäre deshalb eine ersatzlose Streichung dieser Vorschriften." 262 *

Die Erfahrung aus der Geschichte zeigt, daß Verbote eine enorme Ausweitung des Schmuggels nach sich ziehen, wodurch große Geldmengen dem Wirtschaftskreislauf entzogen werden. Sämtliche Gelder, die heute im Bereich illegaler Drogen umgesetzt werden, sind solche Schmuggelgelder. Diese finanzielle Potentiale entgehen nicht nur dem legalen Wirtschaftskreislauf, sondern dienen oft dazu, andere illegale Aktionen zu finanzieren. Den immensen Umfang und die wirtschaftlichen Faktoren des jetzigen illegalen Drogenmarktes hat Amendt ausführlich beschrieben. 263 *

Mit einer Drogenlegalisierung könnte man eben auch solche Aktivitäten zu einem großen Teil unmöglich machen, ohne den Verfolgungsapparat stärker zu belasten und auszuweiten (siehe die jetzige Terrorismusdebatte). Dieser illegale Schmuggelmarkt ist daneben noch bestrebt, die Wirkstoffkonzentration zu erhöhen, da sich eine kleiner Menge natürlich viel besser ins Land bringen lässt. Das hat auch die Geschichte der amerikanischen Alkoholprohibition gezeigt, in der starke Alkoholika gegenüber Wein und Bier eine führende Rolle bekamen. Und auch heute ist es eben leichter, eine kleine Menge chemischer Drogen einzuschmuggeln, als beispielsweise Haschisch/Marihuana, wohlgemerkt bei gleicher oder größerer Gewinnspanne.

Auf solch einem Markt versorgen sich nun die Konsumenten. Für sie entstehen dadurch sehr nachhaltige Nachteile. Dieser Markt kennt nämlich keine Qualitätsgarantie seiner Waren. Wenn ich oben auf die Gefahren des Schmuggels hinwies, sei hier gesagt, daß Beimengungen und Streckungen der Substanzen recht häufig sind, eben auch um die Gewinnspanne zu steigern. Auf diesem Markt selbst gibt es auch keine "Gebrauchsanweisungen" zum gefahrlosesten Konsum. Außerdem kommen normale Konsumenten in Kontakt mit Kriminalität und mit Drogen, die sie zuerst gar nicht wollten, die aber trotzdem kursieren und mit angeboten werden. Das Umfeld und der innere Zustand des Konsumenten werden durch die Verfolgung auch nicht gerade positiv beeinflußt, denkt man an die Theorie von Set und Setting. Mißtrauen untereinander, aber vor allem die Angst, entdeckt zu werden, machen positiven und "nutzvollen" Drogengenuß schwerer möglich. Diese Angst besteht dabei nicht nur vor den Verfolgungsorganen, sondern oft auch vor Eltern, Lehrern und anderen Bezugspersonen, die oft kaum eine Ahnung von den Dimensionen der Drogenproblematik haben. Trotzdem muß man sagen, daß viele Drogenkonsumenten sehr bewußt mit den Substanzen umgehen. Das Wissen wird in peer groups weitergegeben.

Noch ein Punkt kommt von Seiten der Konsumenten zum Tragen. Sie werden für etwas kriminalisiert, wofür bei ihnen überhaupt kein Unrechtsbewußtsein besteht. Wie ich eben schon sagte, besteht durchaus fundiertes Wissen über Zusammenhänge. Dadurch wird der Staat mit seinen Maßnahmen unglaubwürdig. Wiederum haben diese Maßnahmen noch weniger Erfolg und der Drogenkonsum wird nicht nur fortgesetzt, sondern erhält noch einen Widerstandscharakter für eine gerechte Sache.

Das alles sollte einen jedoch nicht zu der Annahme verleiten, daß Drogen kaum oder keine Probleme verursachen können. Das zeigt ja der Anteil Menschen, die durch Drogenkonsum und "Sucht" nicht imstande sind, ein ihrer Würde entsprechendes Leben zu führen.

Die Hilfe für diese Menschen von professioneller Seite wird durch die bestehende Situation mitunter sogar unmöglich gemacht. Dies gilt für die enge Verquickung von Therapie und Strafe, die ja keine besonderen Erfolge erzielt. Aber auch die akzeptierende Drogenarbeit bewegt sich auf schwierigem Terrain. Wenn saubere Spritzen verteilt werden, und hinterher die Polizei die von ihr beobachteten Konsumenten festnimmt, verschließen sich naturgemäß die Meisten dieser Hilfe. Im Grunde genommen hat die Drogenhilfe viel stärker mit Drogenpolitikproblemen zu tun, als mit den wirklichen Drogenproblemen.

Generell muß berücksichtigt werden, daß nicht jeder Drogenkonsum schädlich ist, weder für den Konsumenten selbst noch für die Gesellschaft als Ganzes. Dies gilt sowohl für legale wie auch für illegalisierte Substanzen. Deshalb ist es aus ethischer wie auch aus rechtlicher Sicht außerordentlich fragwürdig, den Umgang mit oft konsumierten Substanzen prinzipiell zu verbieten und unter Strafe zu stellen. In den "Zielsetzungen in der Prävention" stellt Gundula Barsch fest, daß "es heute als wissenschaftlich akzeptiert gilt, daß bestimmte Formen des Konsums psychoaktiver Substanzen durchaus mit physischer, psychischer und sozialer Gesundheit vereinbar sind, Drogenkonsum nicht nur destruktive, sondern auch persönlichkeitsfördernde und sogar protektive Komponenten haben kann, Drogenkonsum keineswegs folgerichtig mit somatischen und/oder psychischen Störungen einhergeht und Drogenkonsum die Gesellschaftsfähigkeit und Gesundheit der Konsumenten nicht per se unterminiert. Deshalb wird in dieser Stellungnahme auch ausdrücklich eine differenzierte Sichtweise angemahnt, die für jeden Umgang mit psychoaktiven Substanzen zwischen Gebrauch, Mißbrauch und Abhängigkeit unterscheidet.

Der Konsum psychoaktiver Substanzen kann damit als ein Handeln wahrgenommen werden, daß unter bestimmten Bedingungen in die Lebenswirklichkeit der Menschen integrierbar ist, dort einen berechtigten Platz finden und mit hochgeschätzten Werten der Gesellschaft vereinbar sein kann. In dieser Wahrnehmung gilt Drogenkonsum nicht mehr als etwas grundsätzlich zu überwindendes. Vielmehr gilt es, für den sozial integrierten Drogengebrauch gezielt Kompetenzen zu entwickeln – ein Prozeß, der nicht sich selbst überlassen bleiben sollte.

(...)

Drogenmündigkeit als Teil der Gesellschaftsfähigkeit

Das Pendant zu Sucht und exzessivem Konsum ist nicht Abstinenz, sondern Drogenmündigkeit.

Die Entwicklung von Drogenmündigkeit zielt darauf Menschen zu befähigen, sich eigenständig in vielfältigen Alltagssituationen orientieren und zu jeweils angemessenen Formen im Umgang mit Drogen finden zu können. Drogenmündigkeit beinhaltet insofern keinesfalls Fertigkeiten, Willenqualitäten und Selbstkontrolle, um durch Experten formulierte Vorgaben buchstabengetreu umzusetzen. Drogenmündigkeit ist vielmehr ein sehr komplexes Handeln, in das u.a. Fähigkeiten und Motivationen für Risikomanagement, Kritikfähigkeit, Genußfähigkeit, Drogenwissen eingehen und die Basis dafür schaffen, daß Menschen in den vielfältigsten Alltagssituationen in bezug auf Drogen autonom und kundig handeln. Gerade mit dem Bezug auf Kritikfähigkeit und Risikomanagement wird deutlich, daß Drogenmündigkeit nicht dem nur sich selbst verpflichteten Individuum das Wort redet, das sich mit seinem Drogenkonsum rücksichtslos in der Gemeinschaft platziert. Drogenmündigkeit soll vielmehr ausdrücklich als Aspekt der Gemeinschaftsfähigkeit verstanden werden.

Im Ergebnis von Drogenmündigkeit entsteht ein integrierter, autonom kontrollierter und genußorientierter Drogenkonsum, der allen Konsumenten von psychoaktiven Substanzen die selbstbestimmte und selbstverständliche Teilnahme am allgemeinen gesellschaftlichen Leben ermöglicht. Dies insbesondere deshalb, weil mündiger Drogenkonsum mit von außen und mit selbstgestellten Anforderungen und Aufgaben vereinbar wird und an Stelle irrationaler Verhaltensroutinen ein bewußtes und differenziertes Risikomanagement tritt. Drogenmündigkeit wird zugleich deshalb Voraussetzung von Gesellschaftsfähigkeit, weil durch Drogenkonsum angestoßene individuelle Verhaltensweisen wie das zeitweise Losbinden vom Alltag, die Orientierung auf die eigene Person, Genuß, Grenzerfahrungen und Lustgewinn in soziale/gemeinschaftliche Ziele wie z. B. die Vermeidung von Selbst- und Fremdschädigung eingeordnet werden. Die individuelle Entscheidung zum Konsumverzicht (lebenslang oder situativ) kann insofern – muß aber nicht – ebenfalls als Mündigkeit gedeutet werden." 264 *

Die Ansichten von Gundula Barsch werden von den Ausführungen von Hans Cousto bestätigt. So schreibt er zu Drogenkompetenz und Drogenmündigkeit:

"Drogenkompetenz erlangt man nicht nur durch Aneignung von Fachwissen über die Wirkungsweisen verschiedener Substanzen, sondern vor allem durch die Einbindung dieses Wissens in die Gestaltung der eigenen Konsummuster zur Heraus- und Weiterbildung der individuellen Genußkultur. Ohne diesen Lernprozeß und ohne ausgeprägte Kultur des Genießens, das heißt ohne Drogenkompetenz, ist ein unproblematischer Konsum verschiedenster psychoaktiver Substanzen auf Dauer kaum oder gar nicht realisierbar. Der erste Schritt zur Erlangung dieser Drogenkompetenz ist die Aneignung von Fachwissen über psychoaktive Substanzen.

Die öffentlich geschürte Angst vor psychoaktiven Substanzen sitzt tief verankert im Bewußtsein vieler potentieller und praktizierender Drogengebraucher und ist somit oftmals ein nicht unbedeutender negativer Faktor im persönlichen Set. Diese Angst steht diametral dem unabdingbaren Wunsch gegenüber, mittels psychoaktiver Substanzen transzendentale Bewußtseinserfahrungen zu erleben. Es sind also nicht so sehr medizinische Gründe, die die Angst vor diesen Substanzen verursachen, sondern vielmehr die von der Gesellschaft auf das Individuum übertragene Angst, daß bei der Durchbrechung des Seelenpanzers Inhalte zum Vorschein kommen könnten, die unbekannt oder unvertraut sind und die das Bewährte und Selbstverständliche im eigenen Selbst in Frage stellen könnten. Der Ursprung dieses Angstszenarios liegt in der Tatsache begründet, daß mit dem Gebrauch von Rauschmitteln Bewußtseinszustände so verändert werden können, daß durch Variationen des bewußten Erlebens neue Einblicke in nicht alltägliche Wirklichkeiten und damit in andere Dimensionen von Erfahrungen eröffnet werden. Die Suche nach diesen Risikofaktoren im oben bezeichneten Bereich und die Versuche ihrer Vermeidung gehören mit zum Pflichtprogramm zur Erlangung von Drogenkompetenz. Hierbei spielt die Reflexion persönlicher Drogenerfahrungen eine zentrale Rolle." 265 *


 
Abb. 30: "Drogen rauben unsere Kinder", Titelgestaltung des Buches von Dietmar Schlee (Hrsg.), Stuttgart 1991

Zunächst einmal ist es überhaupt schwer, in der Öffentlichkeit offen über Drogen und die gesamte, sie betreffende Thematik zu sprechen. Das verhindert natürlich eine Aufklärung, die ohne Angst und offen gestaltet werden kann. Das Problem wird durch "schwarze Drogenpolitik", die dämonisiert , noch verschärft. Siehe hierzu den hier abgebildeten Buchtitel "Drogen rauben unsere Kinder".

Das offene Gespräch und die Auseinandersetzung mit Drogen werden immer wichtiger und im Rahmen der zunehmenden Debatte auch möglich. Die Selbstregulationskräfte, die Selbstverantwortung der Konsumenten sowie ihr Wissen sind nicht zu unterschätzen und weiter zu stärken. Gleichzeitig zeigen Untersuchungen, daß selbst bei einer Freigabe aller Drogen das Dammbruchszenario aus eben Gesagtem heraus kaum zu befürchten ist. Das sollte aber nicht zu dem Denken verleiten, Legalisierung würde Drogenprobleme beseitigen. Sie würde vor allem ermöglichen mit Drogen umzugehen und effektive und präventive Hilfe zu leisten. Sie wäre auch ehrlich im Blick auf wissenschaftliche Untersuchungen, die endlich nicht länger mißachtet werden sollten. Dazu zählt der französische Roques-Report ebenso wie die deutsche Kleiber-Studie. Letztere wurde vom Bundesgesundheitsministerium 1995 in Auftrag gegeben, um die derzeitige Drogenpolitik zu unterstützen. Nach ihrer Fertigstellung hielt man sie jedoch lange zurück.

Der Grund war recht einfach. Die Studie untersuchte die Konsummuster von Cannabis bei Jugendlichen und wiederlegte die These von der Einstiegsdroge und der großen Gefährlichkeit. 266 * Stöver hat in seinem Buch "Drogenfreigabe" 267 * sehr gut herausgearbeitet, welche weiteren Beweggründe an der Prohibition festhalten lassen. Da sind Drogen zum einen symbolischen Feinde, die von vielen Problemen ablenken, aber auch sozialpsychologisch den normativen Kern einer Gesellschaft stärken. Zum anderen kann man mit der strafrechtlichen Verfolgung Druck und Kontrolle auf unliebsame Randgruppen, aber auch auf die gesamte Gesellschaft ausüben.

Schon beim Thema Kaffee und Tabak begegnete uns die rechtlich-repressive Drogenverfolgung als Mittel, die Untertanen zu kontrollieren und die eigene Macht zu konsolidieren. Dabei nimmt der Staat heute in Kauf, mit zwei relativ gefährlichen Drogen Geld zu verdienen, während eine relativ harmlose, Cannabis verboten wird.

Inzwischen gibt es auch Äußerungen von Verfassungsrichtern, die an der Ehrlichkeit des Staates im bezug auf den Gesundheitsschutz zweifeln lassen. Karin Grasshof hat sich für das Verbot von Cannabis ausgesprochen, da es ein "sozialethisches Unwerturteil" zum Ausdruck bringe. Daher sei der Cannabiskonsum verwerflich. Obwohl Alkohol weit schädlicher sei, sei er deshalb erlaubt, da sein Konsum nicht verwerflich ist. 268 *

 


10.6. Eine immer kompliziertere Gesellschaft der Postmoderne

Zu den größten und gravierendsten derzeitigen kulturell-gesellschaftlichen Entwicklungslinien ist festzustellen, daß diese die Bedingungen und den Rahmen determinieren, in denen Sozialarbeit agiert. Teile dieses Rahmens kamen in den vorangehenden Abschnitten schon im Zusammenhang mit den Aufgaben und dem Selbstverständnis der Sozialarbeit zur Sprache. Die sich stellenden Probleme und deren Auswirkungen sind eben auch Faktoren der Gesamtkultur.

Im Bezug auf die Drogenproblematik haben diese Faktoren eine besondere Bedeutung. Als kulturelle Faktoren determinieren sie die Gründe für die Drogeneinnahme, als auch die Atmosphäre, unter der diese geschieht. Zum anderen beeinflussen sie die individuellen und gesellschaftlichen Auswirkungen der Drogen in positiver und negativer Weise.

Die derzeitigen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen hat Ulrich Beck mit seiner Risikotheorie sehr treffend beschrieben. Er geht davon aus, daß sich die Gesellschaft immer weiter verkompliziert und verbreitert. Dabei teilt sie sich in immer mehr und kleinere Bereiche auf. Dem Einzelindividuum fehlt zunehmend der Überblick über das Ganze, es muß sich aber auf sich schnell ändernde Gegebenheiten einstellen, beispielsweise im Beruf. Vorgeschriebene Lebensläufe gibt es nicht mehr. Dasselbe gilt für Hierarchien und Gesellschaftsschichtungen. Dies bringt natürlich auf der einen Seite Verunsicherung und Vereinsamung mit sich, birgt aber auch Chancen für die Menschen ihr Leben individuell zu gestalten. 269 * In einer ganz anderen Zeit und unter anderen technischen und wissenschaftlichen Vorraussetzungen passierte in diesen Dimensionen etwas ähnliches am Ende des Mittelalters, als ein komplettes Weltbild zerbrach.

Zudem muß bei der Analyse berücksichtigt werden, daß wir heute im Kapitalismus respektive im Turbokapitalismus leben, also der Gesellschaftsform, in der das wirtschaftliche Wachstum und Gewinnstreben bestimmend sind. Drogen sind auch heute ein wichtiger Marktfaktor, egal ob legal oder illegal. Doch auch das Wirtschaftsgefüge selbst ist im Wandel, weg von der Produktion als Hauptzweig, hin zu einer Dienstleistungsgesellschaft. Zudem stellt sich langsam die Frage, wohin und wieweit sich Märkte überhaupt noch ausdehnen können, was die Kämpfe um Markanteile verhärtet.

Demgegenüber wachsen die ökologischen Probleme und die Aufwendungen, die für die Schäden des Fortschritts aufgebracht werden müssen. Verbesserungen technischer Natur tragen nicht automatisch zur Verbesserung des Lebens bei, die Technikgläubigkeit ist in großen Zweifel gekommen. 270 * Gleichzeitig steigert sich auch die Dynamik und die Geschwindigkeit innerhalb der Gesellschaft. Die immer schnellere Ablösung von Musikstilen spricht eine ebenso deutliche Sprache wie die Entwicklung der Computertechnik.

Diese angeführten Punkte sollen unterstreichen, daß wir in einer Gesellschaft leben, die an die Menschen hohe psychische Anforderungen stellt. Innerhalb dieser Kultur/Gesellschaft werden, wie in jeder Phase menschlicher Kultur, Drogen genossen zur Bewältigung des Alltags und der einstürmenden Probleme. Gleichzeitig interagieren Drogen mit ihren schon aufgeführten Rollen innerhalb dieser Gesellschaft. Wenn ich sagte, daß Hierarchien bröckeln und sich Unsicherheit breit macht, betrifft dies auch heute die Herrschafts- und Regierungskreise. Für sie sind Drogen und deren Auswirkungen Gefährdungs- und Kontrollpotential zugleich.

Ein weiterer wichtiger Faktor sind die Medien, deren Einfluß derzeit immer größer wird, auch die Möglichkeiten über sie zu kommunizieren, wachsen.

Wenn ich bei der Erläuterung der zeitlichen Vorbedingungen des Kaffees und Tabaks von der psychologischen und der Wahrnehmungsebene ausgegangen bin, bietet sich hier ein guter Anknüpfungspunkt. Auch heute befinden wir uns in einem Umbruch, ähnlich dem, den der Buchdruck hervorrief. Dieser hängt eindeutig mit den neuen Medien, insbesondere mit der Fotografie und noch viel stärker dem Computer und insbesondere mit dem Internet zusammen. Mit dem Computer in Verbindung mit dem Internet haben wir plötzlich die Möglichkeit mit einer großen Menge an Schrift, Bild, Musik, Film, kurzum fast allen medialen Äußerungen umzugehen. Daher auch der Begriff Multimedia. Das Ende und die Ergebnisse dieser Entwicklung und ihr Einfluß auf gesellschaftliche Strukturen sind derzeit längst nicht abzusehen. Es scheint aber so, daß das Bild und damit das "magische" Element wieder einen größeren Raum bekommt. Hierin liegt zu einem großen Teil die gegenwärtige Rückbesinnung vieler Menschen auf Natur, Esoterik, Geschichte und Religion begründet, andere Gründe stellen die Unsicherheiten der Zeit dar.

Gleichzeitig erweitern sich die Kommunikationsmöglichkeiten enorm. Kommunikation und Auseinandersetzung sind Vorraussetzungen für Kultur und auch für Drogenintegration. Somit wird klar, welche Bedeutung dieser Fakt für die Diskussion um Drogen, die eben auch im Internet, Fernsehen usw. abläuft, hat. Dem entgegengesetzt bekommen Massenmedien jedoch immer größere Macht und vermitteln das meiste Wissen an die Menschen, die dieses aus zweiter Hand erhalten. Manipulation und gezieltes Benutzen von Meldungen wird immer stärker möglich.

Vor diesem Hintergrund verschärfen sich die sozialen Probleme und die soziale Ungleichheit, da für die Bewältigung der Anforderungen und Veränderungen der heutigen Zeit viele Menschen nicht gerüstet sind, da sie sich bisher im immer noch überschaubareren industriellen Zeitalter innerhalb fester Strukturen der Familie, Beruf und des festen Lebenslaufes orientieren konnten.

Innerhalb dieses Grobkontextes, der hier nur anhand von Leitlinien dargestellt werden konnte, kommt der Sozialarbeit eine große Bedeutung eben nicht nur beim direkten Eingreifen in Problemlagen einzelner Klienten zu, sondern sie muß beim Finden von übergreifenden ethischen und sozialen Perspektiven als eigene Kraft erheblich mitwirken. Nicht zuletzt deswegen, weil sie fachübergreifend und multiperspektivisch arbeitet. Im Bezug auf die Drogenpolitik heißt das, über die bloße Hilfe für Menschen mit Drogenproblemen hinaus gesellschaftliche Lösungen im Umgang mit Drogen zu finden und durchzusetzen.

 


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230
Merten, Roland (Hrsg.): Sozialarbeit, Sozialpädagogik, Soziale Arbeit, Freiburg 1998, S. 57
231
Otto, Hans Uwe (Hrsg.): Handbuch der Sozialarbeit, Neuwied 2001, S. 1245
232
Otto, Hans Uwe (Hrsg.): Handbuch der Sozialarbeit, Neuwied 2001, S. 1245
233
Oppl, Hubert (Hrsg): Soziale Arbeit 2000, Freiburg 1986, Bd. 2, S. 137
234
Beck, Ulrich: Risikogesellschaft, Frankfurt/M. 1986, S. 254 ff.
235
Merten, Roland (Hrsg.): Sozialarbeit, Sozialpädagogik, Soziale Arbeit, Freiburg 1998, S. 58
236
Merten, Roland (Hrsg.): Sozialarbeit, Sozialpädagogik, Soziale Arbeit, Freiburg 1998, S. 142
237
Böllinger, Lorenz; Stöver, Heino; Fietzek, Lothar: Drogenpraxis, Drogenrecht, Drogenpolitik, Frankfurt/M. 1995, S. 32
238
Scheerer, Sebastian: Drogen und Drogenpolitik, Frankfurt/M. 1989, S. 20
Böllinger, Lorenz; Stöver, Heino; Fietzek, Lothar: Drogenpraxis, Drogenrecht, Drogenpolitik, Frankfurt/M. 1995, S. 32
239
Böllinger, Lorenz; Stöver, Heino; Fietzek, Lothar: Drogenpraxis, Drogenrecht, Drogenpolitik, Frankfurt/M. 1995, S. 29
240
mit Co. sind die anderen legalen Drogen unserer Gesellschaft gemeint, wie Kaffee, Kakao, Tee
241
Scheerer, Sebastian: Drogen und Drogenpolitik, Frankfurt/M. 1989, S. 30
242
Oppl, Hubert (Hrsg): Soziale Arbeit 2000, Freiburg 1986, Bd. 2, S. 275
243
Oppl, Hubert (Hrsg): Soziale Arbeit 2000, Freiburg 1986, Bd. 2, S. 278
244
"Suchthilfe" ist eigentlich ein Unwort. Der Sucht muß ja schließlich nicht geholfen werden! Genauso wie der Begriff "Welthungerhilfe" ein Unwort ist, es müßte korrekt "Weltsättigungshilfe" heißen!
245
Scheerer, Sebastian: Drogen und Drogenpolitik, Frankfurt/M. 1989, S. 85 ff., S. 129 ff.
246
o.A.: Zahl der Zigarettenautomaten in Deutschland sinkt, in: Stern, Short News vom 23. September 2005
URL: http://www.shortnews.de/shownews.cfm?id=590383&CFID=26944114&CFTOKEN=70820449
Artikel Zigarettenautomat , in: Wikipedia, Die freie Enzyklopädie. Bearbeitungsstand: 14.12.2006.
URL: http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Zigarettenautomat&oldid=25100408
(Abgerufen: 17. Dezember 2006, 11:54 UTC)
247
Scheerer, Sebastian: Drogen und Drogenpolitik, Frankfurt/M. 1989, S. 32
248
Pressemitteilung Tobaccoland vom 13. Sept. 2006: Zigarettenschmuggel und Falsifikate – Verdrängung legaler Handelsstrukturen
http://www.tobaccoland.com/fileadmin/images/Presse/PM_MG_tob_06_09_13.pdf
249
Stöver, Heino, Drogenfreigabe, Freiburg, 1994, S.49
250
Stöver, Heino, Drogenfreigabe, Freiburg, 1994, S.9
251
http://www.hanfmedien.de/hanf/archiv/artikel/1040/
252
http://www.hanfmedien.de/hanf/archiv/artikel/1040/
253
http;//www.hanflobby.de/recht/studie/harmloses-teufelszeug.html (im Netz nicht mehr verfügbar)
254
ein Beispiel findet sich auf der beigelegten CD
255
die Filme "Lammbock" und "Grasgeflüster" vermitteln z.B. eine positive Einstellung zum Cannabiskonsum
256
Stöver, Heino: Drogenfreigabe, Freiburg 1994, S. 41
257
Rätsch, Christian: 50 Jahre LSD-Erfahrung, Löhrbach und Solothurn 1993, S. 15
258
Kupfer, Alexander: Göttliche Gifte, Stuttgart 1996
259
Thamm, Bernd Georg: Drogenfreigabe – Kapitulation oder Ausweg, Hilden,1989, S. 239
260
Deutsche Encyclopädie oder Allgemeines Real- Wörterbuch aller Künste und Wissenschaften, Frankfurt/ M. 1794, S. 606
261
Deutsche Encyclopädie oder Allgemeines Real- Wörterbuch aller Künste und Wissenschaften, Frankfurt/ M. 1794, S. 606
262
Die Drogen- und Suchtkommission beim Bundesministerium für Gesundheit: Stellungnahme der Drogen- und Suchtkommission zur Verbesserung der Suchtprävention, Berlin 2002, S. 29 f.
http://www.drogenkult.net/text004.pdf
263
Amendt, Günter: Sucht Profit Sucht, Reinbek 1990
264
Barsch, Gundula: Zielsetzungen in der Prävention, in: Die Drogen- und Suchtkommission beim Bundesministerium für Gesundheit: Stellungnahme der Drogen- und Suchtkommission zur Verbesserung der Suchtprävention, Berlin 2002, S. 45 f.
http://www.drogenkult.net/text004.pdf
265
Cousto, Hans: Drogenkompetenz und Drogenmündigkeit, Berlin 2002
URL: http://www.drogenkult.net/?file=text002 (aufgerufen am 19. Dezember 2006, 22:30 CET)
266
http://www.hanflobby.de/recht/harmloses-teufelszeug.html (im Netz nicht mehr verfügbar)
267
Stöver, Heino: Drogenfreigabe, Freiburg 1994, dieses Buch diente als Hauptgrundlage dieses Textes
268
http:/hellgate.hs-bremen.de/- bastard/drogen/dro_lega.htm (im Netz nicht mehr verfügbar)
269
Beck, Ulrich: Risikogesellschaft, Frankfurt/M. 1986, S. 7 ff.
270
Rapp, Friedrich: Die Dynamik der modernen Welt, Hamburg 1994