Kiffen dürfen reicht nicht oder:
Radikale Alternativen in der Drogenpolitik

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1. Der Begriff Droge

Wenn man darüber nachdenkt, was Begriffe wie etwa Rauschgift, Suchtmittel, Genußmittel oder ähnliches bedeuten, dann stellt man fest, daß die Begriffe, die wir heute für legale und illegale Drogen benutzen, relativ neu sind, daß man solcherlei Unterscheidungen in solcher Schärfe in früherer Zeit nicht machte. Vier historische Stationen können dies verdeutlichen: Bis weit in 19. Jahrhundert hinein hat man nicht unterschieden in Nahrungsmittel, Arzneimittel, Suchtmittel, Genußmittel, Rauschmittel u.s.w., sondern man faßte alles dies unter der weitverstandenen Lehre von der Diätetik oder auch der Lehre vom ganzen Haus. Beten, Essen, Trinken, Feldarbeit, also alles, was mit dem täglichen Leben zu tun hatte, wurde zusammen abgehandelt. In der damaligen Vorstellung der Säftelehre spielte alles, was man zu sich nahm, eine bestimmte Rolle, es ging darum, die einzelnen Säfte zu temperieren, freilich noch in einer magisch-mythischen Art und Weise.

Als C.Hartwich 1911 sein Buch "Die menschlichen Genußmittel" 1 * veröffentlichte, war es für ihn selbstverständlich, daß nicht nur die für uns alltäglichen Drogen Tabak, Kaffee, Alkohol, Tee, Kakao etc. behandelt werden mußten, sondern ebenso Opium, Hanf (also Cannabis), die Kolanuß, Koka(in), Betel und nicht zuletzt der Fliegenpilz. Zwar sah Hartwich 2 * die Gefahren, die aus dem Konsum dieser Substanzen entstehen können, und stand ihnen daher auch recht ambivalent gegenüber; an seiner Definition als Genußmittel änderte dies allerdings nichts.

1943 gab Knud O. Möller in Dänemark das Buch Rauschgifte und Genußmittel heraus, das 1951 in übersetzter Fassung auch in Deutschland erschien. Hier taucht bereits die heute übliche Unterscheidung zwischen Genußmitteln und Rauschgiften auf. Sowohl Möller 3 * als auch Hansen 4 * unterschieden diese beiden Begriffe nach der jeweiligen Wirkung der Drogen auf das Großhirn. Hansen glaubte, "daß die am meisten verwendeten Rauschgifte auf das Großhirn eine lähmende Wirkung ausüben, während nur Kokain und Weckamine eine aufpeitschende Wirkung haben. Mit Genußmitteln verhält es sich umgekehrt. Sowohl Koffein in Form von Kaffee und Tee als auch Nikotin im Tabak sind echte Stimulantien. [...] Merkwürdigerweise finden sich so gut wie keine beruhigenden (großhirnlähmenden) Stoffe unter den allgemein gebräuchlichen Genußmitteln, abgesehen vom Alkohol." 5 *

Nicht deutlich wird hier zum einen, ob Hansen den Alkohol nun als Rauschgift oder als Genußmittel betrachtet, zum anderen, was z.B. der Unterschied zwischen aufpeitschender Wirkung und echter Stimulanz sein könnte. Die Unterscheidung in Rauschgifte und Genußmittel scheint also recht undeutlich. Sie wird noch undeutlicher, wenn Hansen anmerkt, daß man wohl auch deshalb zwischen Rauschgiften und Genußmitteln unterscheiden müsse, als die Rauschgifte geruchs- und geschmacksfrei seien, was sie als Genußmittel ungeeignet mache. Die Frage ist allerdings, nach welchen Gschmackskriterien Hansen unterschieden hat, wenn er das Rauchen von Tabak geschmacklich als Genuß definiert, das Rauchen von Opium oder Cannabis (mit seinem recht charakteristischen Geruch) dagegen nicht. Der Volksmund würde möglicherweise sagen: "Alles Geschmackssache".

Einige neuere Autoren, wie etwa Rudolf Schröder 6 * oder Werner Christian Simonis, 7 * gehen in ihren Ausschlußkriterien die Genußmittel betreffend noch weit über Möller und Hansen hinaus. Tabak und starke alkoholische Getränke zählt Schröder nicht mehr zu den Genußmitteln, gibt aber gleichzeitig keine andere Kategorie für sie an. Kakao bezeichnet Schröder in erster Linie als Nahrungsmittel. Für Simonis 8 * kommt selbst beim Kakaokonsum der Genuß, wie bei allen anderen Genußmitteln auch, aus dem Gift: "Chronische Kakaotrinker und Schokoladenesser werden keine geistig allzu regsamen Menschen sein, abgesehen von den bekannten Neigungen zur Verstopfung."

Wie also soll man bei der Definition von Substanzen verfahren? Hilfreich erscheinen hierbei jene Gesetze, die sich mit Substanzen der verschiedensten Art in einer nicht-moralischen Art und Weise beschäftigen: also z.B. das Arzneimittelrecht oder auch das Lebensmittelrecht, zum dem auch unsere Alltagsdrogen Alkohol, Nikotin, Koffein, Chinin etc. gehören. Solche und ähnliche Gesetze definieren Substanzen stets über ihren Verwendungszweck. So bestimmt das Arzneimittelgesetz (AMG) in § 2:

"Arzneimittel sind Stoffe und Zubereitungen aus Stoffen, die dazu bestimmt sind, durch Anwendung am oder im menschlichen oder tierischen Körper

  1. Krankheiten, Leiden, Körperschäden oder krankhafte Beschwerden zu heilen, zu lindern, zu verhüten oder zu erkennen
    [...]
  1. die Beschaffenheit, den Zustand oder die Funktionen des Körpers oder seelische Zustände zu beeinflussen."

Die Definition in § 1 Lebensmittel- und Bedarfsgegenstände-Gesetz (LMBG) lautet:

"Lebensmittel im Sinne dieses Gesetzes sind Stoffe, die dazu bestimmt sind, in unverändertem, zubereitetem oder verarbeitetem Zustand vom Menschen verzehrt zu werden, ausgenommen sind Stoffe, die dazu bestimmt sind, zu anderen Zwecken als zur Ernährung oder zum Genuß verzehrt zu werden."

Dagegen wirkt die Definition des § 1 des Betäubungsmittelgesetzes relativ hilflos, um nicht zu sagen willkürlich - alles kann Betäubungsmittel sein oder werden:

"Betäubungsmittel im Sinne dieses Gesetzes sind die in den Anlagen I bis III aufgeführten Stoffe und Zubereitungen."

Abgesehen vom Betäubungsmittelgesetz, in dem Substanzen ohne Zweckangabe herrschaftlich und pauschal als illegal kategorisiert werden, werden Substanzen also stets über ihren Verwendungszweck gesetzlich erfaßt. Genußmittel werden, wie wir gesehen haben, explizit im Lebensmittelrecht geregelt, wobei man sich ihrer psychoaktiven Wirkungen durchaus bewußt ist. So gelten als Genußmittel auch solche Stoffe, die nicht wegen ihres Nährwertes eingenommen bzw. verzehrt werden, von denen aber anregende Wirkungen auf körperliche Funktionen ausgehen, so zum Beispiel auf die Magen- und Darmtätigkeit, auf Gehirn, Kreislauf oder Herz. 9 *

Denkt man die Definition über den Zweck des Gebrauchs weiter, so ergibt sich folgerichtig eine situationsabhängige Definition von Substanzen. Eine solche Herangehensweise scheint sinnvoll, bedeutet aber konsequent zu Ende gedacht dann, um es am Beispiel des Alkohols zu verdeutlichen, folgendes: Eine Person kann zum Beispiel glauben, daß ein Rum-Grog, nach einem kalten Winterspaziergang, dazu beiträgt, eine Erkältung zu vermeiden. Zu diesem Zweck eingenommen, wäre Rum-Grog ein Vorbeuge-Mittel gegen Erkältungskrankheiten, also quasi ein Arzneimittel (das LMBG bezeichnet solche Substanzen, wie etwa Rum-Grog oder auch Malzbonbons, Kamillentee etc. als gelegentliche Heilmittel). Denselben Rum-Grog kann man aber auch, in geselliger Runde und mit Lust am Geschmack und den wärmenden und berauschenden Wirkungen dieses Getränkes genossen, als Genußmittel bezeichnen. Trinkt man den Rum-Grog aber wegen des Alkhols und dessen berauschender Wirkung, so stellt die Substanz in diesem Zusammenhang und zu diesem Zweck genossen, wohl am ehesten ein Rauschmittel dar. Setzt nach etlichen Gläsern Rum-Grogs eine starke toxische Wirkung ein, so ließe sich das Rauschmittel auch als Rauschgift bezeichnen.

Zwei weitere Funktionen des Alkohols wären zum Beispiel die des Medikaments im Sinne von Medikamenten, die Alkohol enthalten, und die des Nahrungs- und Lebensmittel in dem Sinne, daß Alkohol ja auch einen nicht geringen kalorischen Wert besitzt (Bier, in Form von Biersuppe, war beispielsweise eines der wichtigsten Lebensmittel bis weit ins 19. Jahrhundert hinein). Die Liste der Zwecke, die man an den Alkohol herantragen kann, könnte man vermutlich noch erheblich verlängern. Zu sprechen wäre dann etwa von den Zwecken der Appetit- (Apéritif) oder Verdauungsanregung (das Schnäpschen hinterher), vom Mut antrinken und vom Sorgen ertränken, vom Imponieren (der kann was ab) und Integrieren (ein Bierchen trinken gehen), von Ritualgegenständen (Meßwein, Abendmahlwein) oder Weltanschauungssymbolen (koscherer Wein). Und schließlich müßte man sich auch den Alkoholverboten zuwenden, etwa der Alkoholprohibition in den USA, als der Alkohol zu einem Verdichtungssymbol aller gesellschaftlichen Mißstände wurde [vgl. ausführlicher Sebastian Scheerer 1992].

Diese Ausführungen zeigen, daß alkoholische Getränke nicht aus sich selbst heraus einen bestimmten Zweck erfüllen bzw. auf einen einzigen Zweck festgelegt sind, sondern daß vielmehr der jeweilige Konsument oder die jeweilige Gruppe von Konsumenten durch ihre Absichten den Zweck der Einnahme bestimmen. Dies bedeutet gleichzeitig, daß die Einnahme von Alkohol verschiedenen Interpretationen unterliegen kann, da unterschiedliche Zwecke mit der Einnahme der Substanz verbunden sein können.

ähnliches gilt auch für alle anderen Substanzen. Es gibt keinen chemischen Unterschied zwischen dem Morphium, das einem an Schmerzen leidenden Patienten von einem Arzt appliziert wird, und jenem Morphium, welches sich ein Opiat-Liebhaber aus anderen Gründen zu hause selbst injiziert. Die Bedeutung und der Zweck der Einnahme sind allerdings verschieden und damit auch die erhoffte und eintretende Wirkung des jeweiligen Konsums.

Die Folgerungen für das Verständnis von Substanzen und Mitteln und insbesondere auch für das Verständnis von sogenannten Drogen und den Umgang mit ihnen sind meines Erachtens drei:

  1. Substanzen sind nicht aus sich selbst heraus Genußmittel, Rauschmittel etc., sondern sie werden dazu durch die spezifische Zweckbestimmung des Konsumenten.

  2. Es gibt weder gefährliche noch ungefährliche, weder harte noch weiche Drogen, sondern nur gefährliche oder weniger gefährliche, harte oder weiche Konsum-Formen. Diese bestimmen sich durch Konsumtechniken, Dosis, Konsumfrequenz etc.

  3. Für den Umgang mit allen Substanzen gibt es ein Spektrum, auf dem der je individuelle Gebrauch eingeordnet werden kann. Das Spektrum reicht stets von Abstinenz bis zu unmäßigem oder zwanghaftem Verhalten (oder eben bis zu dem Punkt, den wir gerne als Sucht bezeichnen).

 

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1
Hartwich, C. (1911): Die menschlichen Genußmittel. Ihre Herkunft, Verbreitung, Geschichte, Anwendung, Bestandteile und Wirkung, Leipzig
2
Ebd.: S. 2 ff.
3
Möller, K.O. (Hg.) (1951): Rauschgifte und Genußmittel, Basel, S. 13 ff.
4
Hansen, P.F. (1951): Die Sucht nach Genußmitteln und Rauschgiften, in: Möller (1951), a.a.O., S. 53 ff.
5
Ebd.: S. 53
(Hansen, P.F. (1951): Die Sucht nach Genußmitteln und Rauschgiften, in: Möller (1951), a.a.O., S. 53 ff.)
6
Schröder, R. (1991): Kaffee, Tee und Kardamom: tropische Genußmittel und Gewürze: Geschichte, Verbreitung, Anbau, Ernte, Aufbereitung, Suttgart
7
Simonis, W.Chr. (1984): Genuß aus dem Gift? Kaffee, Alkohol, Haschisch, Tee, Tabak, Kakao, Stuttgart
8
Ebd.: S. 61
9
Hahn, P.; Muermann, B. (1986): Lexikon Lebensmittelrecht, Hamburg, S. 16; vgl.: Lips, P.; Marr, F. (1990): Wegweiser durch das Lebensmittelrecht, 3., neubearb. Aufl., München, S. 51-57